Berliner Hinterhöfe um 1900 - der alte Mann mit dem Leierkasten und einem Äffchen, um ihn herum Kinder, die ein Tänzchen wagen, und aus dem Fenster wird eine in Zeitungspapier gewickelte Münze geworfen ...
Die Anfänge des Instruments liegen im Dunkeln. War sein Erfinder der Jesuitenpater
Athanasius Kircher (1601-1680)? Der erste namentlich erwähnte deutsche Drehorgelbauer war jedenfalls Johann Daniel Silbermann (1717-1766), ein Neffe des berühmten Freiberger Meisters.
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Bereits im ersten Dritten des 18. Jahrhunderts baute man in
Mirecourt in den Vogesen sogenannte
Vogelorgeln (Serinetten). Mit ihnen sollte Vögeln für das "verwöhnte Ohr" gehobener Kreise der "geschmackvolle Gesang" beigebracht werden. In England und Frankreich wurden im selben Jahrhundert bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts kleine Walzenorgeln für Kirche und Salon gebaut, auch um ohne durch menschliches Spiel verursachte Mängel gepflegte Orgelmusik zu ermöglichen.
Zum Straßenbild vor allem der Städte gehörte die Drehorgel im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Sie diente zum Broterwerb für Kriegsinvaliden, als Begleitinstrument für Moritatensänger und Gaukler, als Attraktionen für die Fahr- und Unterhaltungsgeschäfte der Schausteller auf den Jahrmärkten (Kirmes- oder Karussellorgel), als Musikmaschinen zum Ersatz für lebendige Musiker in Tanzsaal, im Zirkus und im Varieté.
Unter anderen Namen - wie Ariston, Herophon, Phoenix - hielt der Leierkasten seit etwa 1882 Einzug in die bürgerlichen Wohnzimmer. Statt Pfeifen mit durchschlagenden Zungen ausgestattet wurden solche Organetten auch für Kinder gefertigt.
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Zentrum der Herstellung dieser Instrumente war Leipzig. Drehorgeln wurden in Deutschland vor allem in Berlin und Waldkirch gebaut. Für Berlin sind etwa die Firmen der verzweigten Familie Bacigalupo oder die Firma Holl zu nennen, für Waldkirch die Firmen der Familie Bruder oder die Firma Ruth & Sohn. Drehorgeln wurden freilich auch anderenorts hergestellt, beispielsweise in Gersfeld, in Halle, in Hannover, in Böhmen und Mähren, in Wien, Paris und London.
Mit Plattenspieler und Rundfunk hörte Musik auf, ein kostbares Gut zu sein. Der Niedergang der mechanischen Musikinstrumente und insofern auch der Drehorgel schien mit dem Siegeszug von anderen Wiedergabemöglichkeiten von Musik beschlossen. Im Zuge nostalgischer Bedürfnisse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden sie wieder entdeckt. Es werden wieder Drehorgel gebaut.
Einige davon - wie etwa Orgeln von Carl Frei (1912-1997) aus Waldkirch oder von Franz Oehrlein aus Mainz oder frühe noch konventionell konstruierte Instrumente der Firma Hofbauer in Göttingen begegnet heute Sammelinteresse.
Mehrheitlich sind sie jedoch für den Hobbydrehorgelspieler gefertigt, dem sie zur Freizeitgestaltung dienen. Auch dies ist allerdings ein beachtenswertes Phänomen!
Drehorgeln erzählen Technik-, Kultur- und Sozialgeschichte. Wer sich mit ihnen befasst, begegnet Tüftlern und Erfindern, Handwerkern und Künstlern, Komponisten und Arrangeuren, aber eben auch Eignern und Bedienern dieser Instrumente wie ihrem Publikum, nicht zuletzt auch privaten und öffentlichen Sammlungen und in und mit ihnen denen, die sie verantworten.
Bildliche Darstellungen in der Kunst wie der Gebrauchskunst und die Begegnung mit der Drehorgel in der Literatur wie der Poesie oder auch im Film wie in entsprechenden Tondokumenten erschließen zudem dieses vielschichtige Gebiet.
Dr. Ullrich Wimmer
www.leierkastenheiterkeit.com
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